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Alles nicht so schlimm?

Der Dokumentarfilm »Citizenfour« begleitet die Veröffentlichungen des durch Edward Snowden geleakten NSA-Materials
Seit dem 6. November 2014 ist der Dokumentarfilm »Citizenfour« in deutschen Kinos zu sehen. Es ist der dritte Film der US-amerikanischen Filmemacherin Laura Poitras, der sich mit den Folgen des sogenannten Antiterrorkriegs nach dem 11. September 2001 beschäftigt. »Dieser Film wäre ohne die unglaubliche Unterstützung von vielen Menschen nicht möglich gewesen.« Mit diesem Satz eröffnete Poitras am 5. November 2014 die Premiere in Berlin und bat alle anwesenden Beteiligten nach vorne – am Ende standen 35 Personen auf der Bühne, die gewöhnlich unsichtbaren Arbeitskräfte im Entstehungsprozess eines Films.

Fast zwei Jahre zuvor erhält Laura Poitras erstmals eine verschlüsselte E-Mail von jemandem, der sich mit dem Pseudonym Citizenfour vorstellt. Monate später trifft sie gemeinsam mit dem Journalisten Glen Greenwald in einem Hongkonger Hotelzimmer die bis dahin geheime Quelle: Edward Snowden. Ein paar Tage später beginnt der Guardian mit der Enthüllung.

Laura Poitras hat diesen Enthüllungsprozess mit einer Kamera begleitet, kontextualisierendes Material hinzugefügt und alles in einem spannenden Dokumentarfilm aufbereitet. Im Zentrum des Films stehen die acht Tage im Hongkonger Hotel. Die ZuschauerInnen werden ZeugInnen, wie hier Snowdens neues Leben als Whistleblower beginnt, ganz ohne Plan, einzig mit der Sicherheit, sich endlich aus dem Gewissenskonflikt zu befreien, tagtäglich Dinge zu tun, die »not right«, nicht richtig, sind. In diesem Moment liegt auch die größte Überraschung des Films: Snowden hat zwar sorgfältig monatelang vorbereitet, die Datensätze geheimen Materials in die Hände von vertrauenswürdigen JournalistInnen zu übergeben. Er hat jedoch keinen Gedanken daran verwendet, wie es danach weitergeht. Alles ist nur bis zu diesem Tag X geplant, als die Kamera von Laura Poitras im Hotelzimmer aufgebaut wird.

Es sind sehr berührende Momente, die Poitras in diesen acht Tagen einfängt: die Nervosität der kleinen konspirativen Runde, als plötzlich ein Feueralarm im Hotel losgeht; die Fassungslosigkeit von Greenwald, als Snowden sich bei der Eingabe seines Passworts mit einem roten Umhang verhüllt, um sich vor eventuellen heimlichen Überwachungskameras im Hotelzimmer zu schützen; die Hilflosigkeit Snowdens, der mithilfe von Kontaktlinsen und Haargel sein Äußeres so zu verändern versucht, dass er von den Journalistenmassen vor dem Hongkonger Hotel nicht erkannt wird.

Während die Kamera vor Hitze flimmernde Bilder des damals noch im Bau befindlichen neuen NSA-Datenzentrums in Utah einfängt, erläutert Poitras aus dem Off die technischen Eckdaten der NSA-Überwachung. Eine Befragung von Sicherheitsexperten wie Tor-Entwickler Jacob Applebaum und Lavabit-Gründer Ladar Levison vor dem EU-Parlament unterstreicht die grundsätzliche Unvereinbarkeit dieser Überwachungspraxis mit Grundwerten der bürgerlichen Demokratie, wie der individuellen Freiheit. William Binney, ebenso NSA-Whistleblower, macht sehr eindrücklich deutlich, dass das sehr vorsichtige Vorgehen von Snowden alles andere als paranoid war. So langsam wird es dann auch ungemütlich im Kinosessel. Sollte etwa ein roter Umhang, wie ihn Snowden zur sicheren Passworteingabe benutzt hat, Normalzustand sicherer Kommunikation werden?

Auf eine interessante Weise beantwortet »Citizenfour« diese Frage. Denn er zeigt, dass die totale Überwachung mitnichten zur totalen Kontrolle der Gedanken führt oder gar Widerstand verhindern kann. Der Film zeigt aber auch, dass diese Bedingungen unsere Arbeitsweisen verändern werden: praktische Solidarität, verschlüsselte Kommunikation und enges Vertrauen aller Involvierten wird zur Grundvoraussetzung von beispielsweise solchen Filmproduktionen. So wundert es dann auch nicht, dass bei der Premiere das gesamte Filmteam auf der Bühne steht.

Wir werden mit diesem Film ZeugInnen davon, wie die ProtagonistInnen des Films über sich hinaus wachsen, mutig sind und noch mutiger werden, mit und durch die Überwachung. Wir sind mit dabei, wenn Greenwald sich mühselig mit Verschlüsselungssoftware anfreundet und am Ende des Films ganz selbstverständlich damit hantiert. Also alles nicht so schlimm? Ganz im Gegenteil: alles noch viel schlimmer. Aber dennoch ist der Film nicht erdrückend, sondern ermutigend: Wir müssen, können, werden uns dagegen zur Wehr setzen.

Dieser Artikel erschien offline in ak 599 [1].

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