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Mobbing vs. sinnvolle Digitalisierung im ÖGD

Bild: Public Domain [1]

Das Gute im Schlechten: Anlässlich der Pandemie wurden lange geplante, aber in den Schreibtischschubladen der zuständigen Ämter verwesende Pläne für Pop-Up-Fahrradwege [2] plötzlich blitzschnell umgesetzt. Und so wie uns die Seuche weiter in Wellen begleiten wird, bleiben hoffentlich auch die neuen Fahrradwege. Einen Digitalpakt für Bildung [3] gabs (auch wenn weiterhin Streit nötig ist über die Art und Weise, wie das Geld ausgegeben werden soll). Und ebenso – weniger prominent und mit 800 Millionen auch etwas weniger üppig ausgestattet – gabs auch einen Digitalpakt für den öffentlichen Gesundheitsdienst [4].

Der öffentliche Gesundheitsdienst (ÖGD) erschien unter den Bedingungen der Pandemie wie eine große Telefonzentrale mit Statistikabteilung: Fälle erfassen, Zahlen aufbereiten und weiterleiten, Kontakte benachrichtigen. Aber Public Health [5], das medizinische Fach hinter dem Dienst und damit der Dienst als öffentliche kommunale Verwaltungseinrichtung, ist mehr. Public Health fordert dem angehenden Facharzt, der angehenden Fachärztin 5 Jahre Spezialausbildung ab. Dabei geht es interdisziplinär u.a. um Epidemiologie, Sozialmedizin, Gesundheitsförderung und Prävention, Versorgungsforschung, Gesundheitsberichterstattung, Gesundheitsökonomie, Gesundheitspolitik und Ethik. Die ÖGD operieren auf der Basis eines umfassenden Verständnisses über die Verbreitung und Verhinderung von Krankheiten in der Bevölkerung. Sie bilden damit das Gegengewicht zur Individualmedizin, die die einzelne Patientin in der Behandlung hat und strukturell blind bzw. handlungsunfähig ist gegenüber gesellschaftlichen und politischen Krankheitsursachen und Gesundheitsrisiken.

Vor diesem Hintergrund gewinnt eine Neuköllner Geschichte, die in den Berliner Medien als machtpolitisch aufgeladene Mobbingepisode geschildert wurde, an Bedeutung: Der leitende Amtsarzt des ÖGD in Neukölln und Hirntumorforscher Nicolai Savaskan fliegt raus, nachdem er sich über die Rahmenbedingungen seiner Arbeit beschwert hat. Der öffentliche Rundfunk arbeitet heraus [6], wie die Entlassungsgründe der kurz zuvor vorgebrachten Kritik Savaskans an der ihm politisch vorgesetzten Gesundheitsstadträtin von der SPD gleichen, geradezu gegen ihn gekehrt scheinen:

Aufgrund der „Schwere des Organisationsschadens“, der durch die Gesundheitsstadträtin entstanden sei, bitte er, Savaskan, um „uneingeschränktes Verfolgen des Fehlverhaltens“, auch, weil die Stadträtin „keinerlei Fehlereinsicht zeige“. Eine ähnliche Wortwahl findet sich auch, bezogen auf Savaskan, in dem Freistellungs-Schreiben an ihn, das nur vier Tage später rausging.“ (Quelle: rbb24 [6])

Das wäre alles keiner weiteren Erwähnung wert, wenn wir es mit üblichen innerbürokratischen Auseinandersetzungen zu tun hätten, die auf die Sache selbst keinen Einfluss haben. Schaut man sich aber an, wofür Savaskan steht, wenn es um die Sache selbst geht, dann lohnt es, sich bei der Auseinandersetzung um die Personalie aufzuhalten. Denn es sieht so aus, als ob Savaskan die Gunst der Stunde (Pandemie) genutzt hat, um im ÖGD Neukölln im Hinblick auf Digitalisierung Dinge anzupacken und zu verändern: Es geht ihm nach eigenen Bekunden die Handlungsfähikeit des ÖGD über die Dienstleistungsfunktion für das RKI hinaus, um eine sinnvolle Digitalisierung auf der Basis von Freier Software und offener Schnittstellen und es geht ihm um die Etablierung von Bottom-Up-Ermächtigungs- und -Entscheidungsprozessen dabei. Savaskan hat dem Technikverlag heise.de ein Interview gegeben [7], wenige Tage nach seinem Rauswurf – Titel: „Missing Link. Über Digitalisierung des Gesundheitswesens und den Pandemie-Herbst“. Mit seinen Thesen liegt er dort komplett quer zu einer von Regierungspolitik und Computerkonzernen betriebenen Digitalisierung von Oben:

Heise.de: Die Bundesländer forderten Mitte Mai das BMG eindringlich auf, bis spätestens 31. August eine bundeseinheitliche Kernanwendung zum Meldeverfahren für den Infektionsschutz zur Verfügung zu stellen. Der Bund setzt hier seit Längerem vor allem auf Sormas. Macht eine einheitliche Lösung Sinn und ist Sormas dafür das beste Instrument?

Savaskan: Wenn offene Schnittstellenstandards und horizontal und vertikal medienbruchfrei kommuniziert werden kann, macht eine einheitliche Lösung nicht nur Sinn, sondern ist für die Zukunftsfähigkeit zwingend! Die Idee von SORMAS [Open-Source-Software für das Management von Maßnahmen zur Epidemiebekämpfung; ME] [8] ist deswegen ja revolutionär gewesen. Anders als Demis, Survnet und die vielen Privatanbieter ist das Geschäftsmodell von Sormas gemeinnützig, partizipativ und auf Open Source ausgerichtet. Public Code for Public Money!
Sormas ist sicher nicht das beste Werkzeug, aber damit ist der Bruch der Abhängigkeiten von Top Down gekommen. Und für die Gesellschaft ist es nur richtig, wenn der öffentliche Gesundheitsdienst und generell die öffentliche Verwaltung den technischen und datenschutzmäßigen Standard für die APIs setzen. Also transparente Interfaces, die es allen Anbietern am Markt und allen Bürgern erlauben, mit Ihrer Behörde in Kontakt zu treten. Das ist eines der Digitalisierungsziele, auf die wir zuarbeiten.
Das hat nichts mit dem Einschießen auf einzelne Anbieter mit einzelnen Softwarelösungen zu tun. Hier geht es um eine zivilgesellschaftliche Beteiligung. Wir wollen die grundsätzliche Architektur der Anwendungen und Datenbanken neu implementieren: weg von Einzelunternehmen, weg von Abhängigkeiten von einzelnen Geschäftsmodellen, hin zu Anwendergemeinschaften, Plattformen, Partizipation aus der Zivilgesellschaft – vergleichbar zur Entwicklung der Corona-Warn-App. So erreichen wir auch eine hohe gesellschaftliche Akzeptanz, die immer wichtiger wird.“ (Quelle: heise.de [9])

Die Lektüre des gesamten Interviews [9] lohnt! Es gefällt mir – nicht nur, weil ich die Parole „Public Code for Public Money“ uneingeschränkt teile [10] und begeistert bin, wenn die Ansprüche der dazugehörigen Kampagne [11] in der Verwaltungsrealität wahrgenommen und im Rahmen vernünftiger Verwaltungsleitung zum Leitbild erhoben werden. Allerdings kann ich mir vorstellen, dass man mit einem solchen Programm und der für dessen Umsetzung notwendigen „reformistischen Ungeduld“ schnell als unbequem wahrgenommen wird. Wenn das für einen Rausschmiss reichen soll, finde ich das politisch unerträglich und als Einwohner Neuköllns tragisch. Immerhin: Den auch im Neuköllner ÖGD unter Savaskan mitvollzogenen Erfolg der Einführung von SORMAS wird auch die politische Führung im Bezirk Neukölln nicht mehr rückabwickeln können.

Open Digitalization

Was ebenfalls bleiben wird: Ein neuer Geist, der in neuen Arbeitsweisen von Menschen in öffentlichen Gesundheitsverwaltungen aufkeimt, bottom-up. Was meine ich damit? Beispiel, konkret: Das „Corona-Lagezentrum“ in Reinickendorf [12] leitet stellvertretend der Hygiene-Referent Jakob Schumacher, Infektionsepidemiologe und Mediziner. Für die Veröffentlichung und Fortschreibung seiner ÖGD-Merkblätter [13] und seines Infektionsschutzkompendiums [14] nutzt er auf Kooperation angelegte git-Repositories [15] auf der Quellcode-Entwicklungs- und Versionierungs-Plattform Github. Jeder und jede andere können gemäß der zugrunde liegenden Creative Commons-Lizenz [16] mit dem Materialien von dort weiterarbeiten und/oder Änderungen beisteuern. An „seinen“ ÖGD-Merkblättern arbeiten 155 weitere Personen [17] in unterschiedlicher Häufigkeit und Intensität mit (Stand 7.9.22). Bisher gibt es keine Verzweigungen („branch“, github: „fork“), d.h. alle sind grundsätzlich einverstanden, keine_r wollte bisher eine Änderung („commit“) durchsetzen, die Schumacher als Projektverantwortlicher („maintainer“) in seinem Repository nicht übernehmen („mergen“) wollte. Aber auch ein Branching/Fork wäre kein Problem, sondern ein Feature. Unvereinbare Projektvarianten können nebeneinander entstehen, bestehen und einzelne Bausteine („commits“) gegenseitig übernehmen („cherry picking“) oder eben nicht. Sollten sie sich wieder bis zur Kompatibilität aneinander annähern, unterstützt git auch die komplette automatische Wiederzusammenführung. Jakob Schumachers Arbeitsweise und die der anderen Beteiligten („contributer“) verkörpert das Open Source-Prinzip jenseits der Welt der Coder_innen im engeren Sinne. Seine Arbeit ist öffentlich finanziert, seine Arbeitsergebnisse stehen als Material öffentlich nicht nur zur Diskussion sondern zur Weiterverwendung und -veränderung zur Verfügung. So gestaltet sich sinnvolle Digitalisierung im öffentlichen Gesundheitswesen [18]. Und so kommt Public Health auch auf der Ebene der Arbeitsweise zu sich selbst. Darum geht es auch Savaskan, wenn er im Interview betont:

Wir haben hierzu eine hohe Zustimmung der Gesundheitsämter und daher hat sich eine Community gebildet, die sich nur mit „Open Digitalization“ beschäftigt. Bei den Mitarbeitenden der Gesundheitsämter ist der Wunsch groß, mit Open-Source-Anwendungen zu arbeiten und dadurch eine nachhaltige, für Änderungen offene und beschleunigte Digitalisierung herbeizuführen. Sowohl von den Landesstellen als auch von den Ministerien haben wir aber eher den Eindruck, dass diese nicht an Open-Source-Lösungen interessiert sind und eher auf ihre etablierten Vertragspartner setzen. Vermutlich liegt es daran, dass sie sonst die eigenen Prozesse anpassen und verändern sowie die Komfortzone verlassen müssten.“ (Quelle: heise.de [19])

 

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