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Bild: John Piercy, via flickr, by-nc-nd

Aus gegebenem Anlass etwas Empirie zum Thema „Reichweitenmessung von Web-Angeboten mittels Klickzahlen“  – inklusive einer im Hinblick auf die Arbeit der parteinahen Stiftungen bilanzierenden Zuspitzung. Zunächst eine Vorbemerkung: Netzfueralle zählt ja erst gar keine Zugriffe, erhebt gar keine Daten mehr seit Einführung der DSGVO. Denn die Zugriffe auf die Seiten hier sinken, sobald Daten gesammelt werden: Mit Datensammelei verschrecke ich privacy- und überwachungssensibles Publikum. Und an ein solches wende ich mich ja nicht zuletzt mit meinen zielgruppenbewussten und angebots-orienterten Inhalten. Solche Leute klicken die Seite offensichtlich mitunter eher gleich wieder weg als ihr Einverständnis zur Datensammelei zu erteilen, Pseudonymisierbarkeit hin oder her. Abgesehen davon, dass die ganzen Einverständnis-Popup-Dinger sowieso ziemlich nerven.

This said, möchte ich mich auf eine Studie beziehen, die die Aussagekraft von Klicks untersucht hat. Diese Studie hat für Aufsehen gesorgt und sicherlich auch viele Klicks erhalten, wurde aber tatsächlich von vielen Menschen gelesen. Zu diesem „aber“ gleich mehr. Die Studie wurde von der Firma Chartbeat durchgeführt und basiert auf den Texten von Time.com, der Online-Version des mittlerweile über 100 Jahre alten US-amerikanischen Magazins. Chartbeat ist kein beliebiges Werbeunternehmen, sondern ein ernstzunehmender kommerzieller Konkurrent von Google Analytics, neben der nicht-kommerziellen Open-Source-Alternative Matomo, die man selbst hosten kann. Ich zitiere aus der Studie:

Seit 20 Jahren jagen Verleger der Anzahl von Seitenaufrufen („Klicks“) hinterher. Je mehr Seitenaufrufe eine Website erhält, desto mehr Menschen lesen, desto erfolgreicher sei die Website. Zumindest dachten wir das. Chartbeat untersuchte das Nutzerverhalten bei 2 Milliarden Besuchen im Internet im Laufe eines Monats und fand heraus, dass die meisten Nutzer, die klicken, nicht lesen. Tatsächlich verbrachten atemberaubende 55 % weniger als 15 Sekunden aktiv auf einer Seite. Die Statistiken werden etwas besser, wenn man nur nach Artikelseiten filtert, aber selbst dann verbringt jeder dritte Besucher weniger als 15 Sekunden mit dem Lesen von Artikeln, auf denen er landet. Die Medienwelt ist derzeit in heller Aufregung wegen Klickbetrugs („click fraud“), sie sollte sich stattdessen Sorgen machen über den großen Anteil des Publikums, der gar nicht liest, was nur scheinbar gelesen wird.

Eine weit verbreitete Annahme ist, dass je mehr Inhalte geliked oder geteilt werden, desto ansprechender müssen sie sein, desto mehr Menschen sind bereit, ihnen ihre Aufmerksamkeit zu schenken. Die Daten stützen diese Annahme jedoch nicht. Wir haben 10.000 in sozialen Netzwerken geteilte Artikel untersucht und festgestellt, dass es keinen Zusammenhang zwischen der Anzahl der geteilten Inhalte und der Aufmerksamkeit gibt, die ein durchschnittlicher Leser diesen Inhalten schenkt.

Unterm Strich ist die Messung von Sharing-Verhalten gut geeignet, um das Sharing-Verhalten zu verstehen. Wer die Zahlen jedoch nutzt, um zu belegen, welche Inhalte die größte Aufmerksamkeit der Nutzer erregen, geht über das, was mit den Daten belegbar ist, hinaus.“ (Quelle, Übersetzungsvorschlag deepl, Überarbeitung, Hervorhebungen: me)

Fazit nochmal in meinen Worten:
Es wird kaum gelesen, was geklickt wird.
Es wird in der Regel nicht gelesen, was geshared oder geliked wird.
Das sagen die Daten. Das sind Hard Facts auf breiter Datenbasis (n=2.000.000.000 – in Worten: zwei Milliarden – Klicks bzw. 10.000 Shares).

Fakt ist: Klickzahlen belegen oft überhaupt gar nicht, wofür sie als Beleg herangezogen werden. Sie belegen keineswegs eindeutig die „Reichweite“ oder gar die „Wirksamkeit“. Ich kann auch gar nicht weiter diskutieren, was sie belegen und was nicht, ohne die Methode zu kennen, die zu den Zahlen geführt hat. Statistische Anfängerpraxis: Methodentransparenz. Nimmt man dieses Ziel ernst, muss man seine Erhebungsmaschinerie komplett durchschauen und selbst kontrollieren. Das geht schon mal gar nicht mit den proprietären Tools externalisierter Dienstleister. Das geht in letzter Konsequenz nur mit einem selbst-gehosteten Open-Source-System wie dem bereits erwähnten Matomo.

Aber meine Kritik am Klickwahn geht über die (wie auch immer verursachte) fehlerhafte Benutzung (Machtpolitik? Dummheit? Ich kann es of nicht auseinanderhalten…) und an der mangelhaften Offenlegung von Erhebungsmethoden hinaus. Nachdem ich den preisgekrönten Artikel mit dem Titel „Die Klickzahlen-Falle“ gelesen hatte (von Anfang bis Ende, nicht nur überflogen), habe ich gelernt: Die Vorherrschaft der Klickzahlen beeinflusst auch die Inhalte selbst. Die Inhalte verändern sich und werden letztendlich zu von der Sache selbst losgelöstem, beliebigem Inhalt, wenn diejenigen, die den Inhalt erstellen (Journalistinnen, Künstlerinnen, aber auch Bildner_innen), versuchen, ihre Inhalte darauf auszurichten, die Klickzahlen zu steigern.

Im kommerziellen Journalismus könnte wer sagen: Ja und? Worum geht es eigentlich? Ja, die Nachfrage ist gestattet und zugegeben, unter den gegebenen Bedingungen geht es im kommerziellen Journalismus letztendlich um Profit. Journalismus, die Verbreitung und Kommentierung von Nachrichten, ist da nur ein Mittel zum Zweck. Aber bei der politischen Bildungsarbeit? Da geht es nicht um Profit.

Also habe ich versucht, das Argument aus der „Klickzahlen-Falle“ vom Bereich Journalismus auf die Arbeit parteinaher Stiftungen zu übertragen. Ich konnte nicht anders und kam zu dem Schluss: In politischen Organisationen mit einem Bildungsauftrag, insbesondere wenn sie öffentlich finanziert werden, sollte es geradezu verboten sein, sich an Klickzahlen zu orientieren.

Stattdessen werden sie immer mehr zum maßgeblichen Entscheidungskriterium, oft vor dem Hintergrund von Effizienz- und Kürzungsdebatten (oder auch nur -befürchtungen). Die Debatten konzentrieren sich schließlich fast ausschließlich auf Klickzahlen. Äpfel werden gnadenlos mit Birnen verglichen, denn alles wirft Klickzahlen ab und Erhebungs- bzw. Auslegungsmethoden spielen keine Rolle. Klickzahlengeschwurbel dominiert unsere Diskussionsrunden statt strategischer und taktischer Debatten über die Vermittlung der eigenen Angebote.

Diejenigen, die das Klickzahlen-Diktat vorgeben, sollten sich bewusst sein (aber vielleicht ist ihnen das ja auch gar nicht unwillkommen): Der Klickwahn lenkt das Denken von der eigentlich relevanten Frage ab, wie man Inhalte vermitteln kann, um von der Zielgruppe verstanden zu werden. Stattdessem geht es ständig um die Frage, wie man möglichst viele Klicks generieren kann. Qualitätsorientierte Überlegungen werden durch eine nachfrageorientierte Strategie verdrängt. Inhaltliche und zielgruppenorientierte Arbeit muss sich einer nachfrageorientierten Strategie unterwerfen und entsprechend anpassen. Schleichend verbreitet sich die selbe Logik wie im Journalismus, obwohl es keinen Grund dafür gibt. Denn parteinahe Stiftungen verfolgen keinen Profitzweck.

Die Aufgabe der parteinahen Stiftungen steht hier nicht zur Debatte: Sie werden durch Steuermittel finanziert, um Bildungsarbeit zu den Inhalten ihrer jeweiligen politischen Strömung zu leisten. Dabei muss es auch um Vermittlungsfragen gehen. Die sind aber inhaltlich, mithin qualitativ zu diskutieren. Quantitative Debatten entlang von Klickzahlen, die in der Regel auf die Gleichschaltung der eigenen Inhalte nach den Vorgaben der Klickindustrie hinauslaufen, sollten wir selbstbewußt und solidarisch zurückweisen.

Ein Satz noch zur Solidarität: Wenn wir uns „in Zeiten wie diesen“ auf Klickzahlendebatten einlassen, dann haben wir schon von Anfang an verloren. Denn denjenigen, die nichts anderes wollen und können als Teilen und Herrschen, kann nichts besseres passieren, als dass sie uns von Anfang an gegeneinander auspielen entlang ihrer abstrakten Klickzahlenspiele. Und sobald wir uns auf ihre Klicklogik einlassen, werden wir uns – mehr oder weniger „zerrissen“ – selbst und eigeninitiativ gegeneinader ausspielen.

Politische Bildungsarbeit hat einen angebotsorientierten Auftrag. Die Ausrichtung dieser Arbeit an der Nachfrage, in Klickzahlen gemessen, erfüllt – um es deutlich zu sagen – den Tatbestand des Missbrauchs öffentlicher Gelder und legt den politischen und sachlichen Verstand lahm, der doch in unserer Bildungsarbeit zum Ausdruck kommen soll.

 

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2 Responses to “Wider den Klickwahn”

  1. Lutz sagt:

    Richtig, das ist schon lange bekannt, wird aber nicht ernst genommen … Ich finde es immer wieder überraschend, wie kritiklos Evaluierungsmechanismen hier im Haus aus der Betriebswirtschaft (wo sie auch nur bedingt funktionieren) übernommen werden (ansonsten ist man ja natürlich ganz alternativ). Den für die Stiftung relevanten Vorstoß machte vor vielen Jahren Thomas Krüger von der Bundeszentrale für politische Bildung mit der Forderung nach der Einführung von balanced scorecards in seiner Behörde (hier eine Dissertation aus 2009, die balanced scorecard für politische Parteien prüft). Ich weiß nicht, wie das ausgegangen ist.

    Ansonsten gilt weiter „Kennziffernfragen sind Machtfragen“ und „Messen ist ein politischer Prozess“.

  2. Markus sagt:

    in dem zusammenhang lesenswert: benjamin opratko, wenn die politik verschwindet, jacobin 2/2020, s. 101-98: parteien werden durch mediale politik-start-ups ersetzt. regierung werde zu „PR mit angeschlossenem staatsapparat“, um „die partikularinteressen des kapitals mit möglichst ausgeklügelten werbemaßnahmen zu ummanteln“. o. behandelt das am beispiel sebastian kurz.

    zur marketingmäßigen verarbeitung und steuerung (transformation) von politik liefert deren vermessung die materialgrundlage. hier wird der „klickwahn“ relevant. nicht mehr klassenorganisierung, sondern statistische vermessung der klasse bildet die grundlage für dieses neue paradigma der politischen herrschaft. wer diesen zusammenhang übersieht und als linke/r auf die vermessung von politik und intervention zur vermeintlichen steigerung von deren wirksamkeit setzt, macht sich zum nützlichen idioten dieses paradigmen-wechsels, wenn nicht zum komplizen.

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