Saubere Oberfläche, altersgemäße Übungen für alle Klassen, etwa zum Alphabet für die Erstklässer_innen, und zum Vergnügen ein paar Spiele. Plattformunabhängig ist das Angebot auch noch – auf jedem System mit einem einigermaßen modernen Browser benutzbar: Die Anton-App nicht nur an einer Neuköllner Grundschule. In Coronazeiten wurde sie, neben einigen anderen ähnlich erfolgreichen Plattformen, massenhaft zum Joker beim Home-Schooling. Alles suppi – oder etwa nicht??
Laut Schätzungen aus dem Lehrerverband kommt die Lernunterstützungsplattform an mehreren Tausend Schulen zum Einsatz, exaktere Zahlen liefert die Herstellerfirma leider nicht. Kritik an der App kommt allerdings aus der Suchtpräventionsecke:
Jemand, der aus Interesse und Freude lernt, wird schnell darauf trainiert, für die Belohnung zu lernen“, gibt Suchttherapeut Groß zu bedenken. Wenn die Belohnung später nicht mehr stattfinde, könne das Frust erzeugen und im schlimmsten Fall sei man überhaupt nicht mehr bereit, zu lernen. „Langfristig ist es überhaupt kein gutes Modell, junge Menschen an Leistung oder an Lernen heranzuführen. Da wäre es eher sinnvoller, gewisse Talente und eine Begeisterung zu fördern ohne eine ständige und sofortige Belohnung“, betont Groß.“
So ein Artikel aus dem Redaktionsnetzwerk Deutschland, den viele Zeitungen und Online-Medien im Sommer 2021 nachdruckten.
Interessant finde ich darüber hinaus die Tatsache, dass das Startup, das Anton entwickelt hat, gefördert wurde mit Mitteln aus dem Europäischen Fonds für regionale Entwicklung sowie von der Berliner Senatsverwaltung für Wirtschaft. Nicht etwa vom Bildungssenat, und auch der Regionalentwicklungsfonds ist nicht in erster Linie für Bildung zuständig, sondern für die wirtschaftliche Förderung rückständiger Regionen…
Für die Wirtschaftsförderung mögen Belohnungssysteme ein angemessenes Mittel sein. In der Lernunterstützung geht ein derart plattes Belohnungssytem nach hinten los: Für absolvierte Sachlektionen gibt es Münzen, die dann als Eintrittsgeld für Spiele ausgegeben werden können. Um spielen zu können, musst du lernen, damit du Münzen bekommst. Ein Kind, das anfangs noch aus Begeisterung am Lernstoff zu lernen bereit war, wird umgepolt und darauf konditioniert, zu lernen um zu spielen.
Die Belohnungslogik hinter Anton reduziert Lernen – zumindest für Kinder ein Selbstzweck und innerer Antrieb – auf ein Mittel zum Zweck. Die zentrale Lektion von Anton ist also: Lerne, um spielen zu dürfen. Schon den Erstklässler_innen wird hier der Mechanismus beigebracht, der im Kapitalismus irgendwann für alle gilt: Arbeite, um leben zu dürfen. Nicht um unsere alltäglichen Tätigkeiten geht es und wir gut wir sie machen und wie zufrieden wir damit sind. Es geht stattdessen um das Geld, was wir damit verdienen, um uns dann kaufen zu können, was wir zum Leben brauchen. Entfremdung heißt diese Verkehrung der Beschäftigung mit einer Sache um ihrer selbst Willen in ein Mittel zu einem ganz anderen Zweck. Produziere des Profits wegen! Wenn dabei auch mal ein gutes Produkt herausspringt, dann passiert das nicht wegen, sondern trotz dieser Logik.
Die Belohnungslogik, die aus ihr resultierende Entfremdung und die Verkehrung der Handlungszwecke führen ebenso dazu, dass in industriell produzierten Nahrungsmitteln in der Regel zu viel Fett, Salz oder Zucker enthalten ist (oder gleich von allem zu viel). Der kaputte Wohnungsmarkt lässt sich damit erklären, dass nicht für die Menschen gebaut wird, die Wohnungen brauchen, sondern bestenfalls für die, die viel Geld für eine Wohnung bezahlen können. Die gesellschaftliche Energieverschwendung lässt sich so erklären, Kriegstreiberei, die gewalttätigen Geschlechterverhältnisse: Weil wir gewohnt sind, unsere Verhältnisse zu Tätigkeiten, Dingen und selbst zu anderen Personen an Zwecken auszurichten, die mit den Arbeiten, Dingen und Personen selbst gar nichts zu tun haben.
Allerdings gibt es ein gutes Leben und eine sinnvolle Einzelexistenz erst in einer Gesellschaft,
in der die Menschen nicht der Maxime folgen: »Ich tue erst dann etwas, wenn ich vom anderen ein Äquivalent meiner Leistung erhalte.« Diese Tauschorientierung führt zu einer Abwärtsspirale. Alle Beteiligten erwarten von anderen den ersten Schritt. In der bürgerlichen Gesellschaft nimmt jeder »die Beiträge der anderen Subjekte als Mittel zur eigenen Entwicklung« wahr. Demgegenüber geht es um eine Gesellschaft, in welcher der eigene Beitrag und der Beitrag von anderen als »Mittel des Einander-Entwickelns« (Arne Raeithel: Tätigkeit, Arbeit und Praxis. Grundbegriffe für eine praktische Psychologie. Frankfurt am Main 1983) betrachtet werden. Der »Reproduktionsprozess des gesamten Gemeinwesens« ist als »komplexer Prozess des Einander-Entwickelns« zu verstehen und zu gestalten. (Quelle: Meinhard Creydt: No more Bullshit-Jobs, jW 26.1.23, S. 13)
So gut die Macher_innen der Anton-App es gemeint haben mögen: Ohne Not schaffen sie eine Lernumgebung, in der kindliche Neugier und Begeisterung beim Lernen umgebaut werden zu so etwas wie Lernen nach Vorschrift: „Wie viel muss ich jetzt noch mal üben, um wieder spielen zu dürfen?“ So lautete die Frage des Erstklässers bereits in der zweiten Session mit der Anton-App. Und hier beginnt der „Teufelskreis extrinsischer Belohnung“, wie ihn der Soziologe und Psychologe Meinhard Creydt auf den Punkt bringt, die Schülerinnen und Schüler von heute sind dabei die Arbeitenden von morgen:
Je stärker die Orientierung an einem extrinsischen oder instrumentellen Verhältnis zu den Arbeiten und Dienstleistungen bei den Arbeitenden (»Hauptsache, das Geld stimmt«) und je gravierender Einkommensunterschiede ausfallen, desto schwerer fällt die Motivation, die eigenen Fähigkeiten im wohlverstandenen Sinne der Empfänger der Arbeiten auszuüben. Vor diesem Hintergrund gewinnen extrinsische Prämien noch zusätzlich an Relevanz. Es geht darum, diesem Teufelskreis den Boden zu entziehen.
In dem Maße, wie Einkommensunterschiede etabliert sind, orientieren sich Individuen an ihnen. »Aber wenn es einen solchen Unterschied in einem Gesellschaftssystem nicht gibt, wenn es als ebenso unsinnig angesehen wird, mehr verdienen zu wollen als die anderen, wie wir es heute als unsinnig ansehen (jedenfalls die meisten von uns), um jeden Preis ein ›von‹ vor seinem Namen setzen zu wollen, dann werden auch Motivationen, die einen wirklichen gesellschaftlichen Wert haben, auftauchen oder, besser noch, sich entfalten können: das Interesse an der Arbeit selbst, das Vergnügen, etwas gut zu machen, was man sich selbst vorgenommen hat, Erfindungsgabe, Kreativität, die Wertschätzung und Anerkennung der anderen. Umgekehrt, so lange die jämmerliche ökonomische Motivation da ist, werden einem von Kindesbeinen an alle anderen Motivationen abgewöhnt und verkümmern.« (Cornelius Castoriadis, Daniel Mothé: Hierarchie und Selbstverwaltung. Bielefeld 1992)
(Quelle: Meinhard Creydt: No more Bullshit-Jobs, jW 26.1.23, S. 12)
Wer mir bis hierher gefolgt ist, dürfte verstehen, warum ich der Meinung bin, dass die Sucht-Kritik unter den gegebenen gesellschaftlichen Bedingungen zwar nicht falsch ist, aber am Kern des Problems vorbei geht. Sie verkennt den instrumentellen Charakter, der jeder Zweck-Mittel-Beziehung entspringt. Für Kinder, die eh schon im digitalen Spielerausch versunken sind, mag Anton mit seiner Gamifikation des Lernens ein Angebot sein, um sie zurückzugewinnen für schulische Inhalte. Kinder jedoch, die vom Lernen begeistert sind und mit Spaß und weil sie lernen wollen ans Lernen gehen, zieht sie aufs falsche Gleis.
Konstruktiv gewendet: Laut Geschäftsführer der Berliner Herstellerfirma Solocode gibt es die Möglichkeit, die Spiele abzustellen, falls Lehrkräfte oder Eltern diese kritisch sehen. Wünschenswert wäre es, wenn auch bzw. stattdessen die Belohnungsfunktion abschaltbar wäre. Denn wenn Lerneinheiten und Spiele nicht mehr über ein Belohnungssystem gekoppelt sind, dann müssen sie Spiele vielleicht gar nicht mehr abgeschaltet werden – zumindest nicht, wenn die Kinder an der App von Eltern begleitet werden. Das wäre sicherlich nicht nur für lernbegeisterte Erstklässler- und Internetanfänger_innen der Idealfall.
„Kinder jedoch, die vom Lernen begeistert sind und mit Spaß und weil sie lernen wollen ans Lernen gehen, zieht sie aufs falsche Gleis.“
DAS ist aber viel zu einschichtig betrachtet und macht Kinder in dieser Simplizifierung per se zu Opfern. Man kann es – und ich spreche aus eigener Elternerfahrung – auch als „Lernen kann auch Spaß machen“, nicht nur diese bunten Aufgaben auf andere Art als per Bleistift im Arbeitsheft zu lösen, sondern durchaus die kleine Belohung hinterher. Wir leben in einer Zeit, in der Eltern ihre Kinder für gute Zeugnisse direkt BEZAHLEN oder ständig Süßigkeiten oder Fernsehen gucken dürfen als Belohnungssysteme verwenden. Alles Schrott, ja. Kinder sollten intrinsisch motiviert lernen, aber sowas wie kleines Einmaleins ist auch Trainingssache (die harte Meile) und da kann so ein Spielchen als Belohung durchaus positiv motivierend wirken. Ich würde mal nicht immer gleich alle Kinder mit dem Bade ausschütten, die Kirche im Dorf lassen, mal halblang machen … du verstehst 😉 Will vor allem heissen: Es kommt immer auch zu einen großen Teil auf das Kind an … aber okay, in Zeiten, wo Eltern das Erziehn verlernt haben, birgen solche Systeme auch größere Gefahren als bei mir …