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Film-Still aus einem Werbetrailer für Amazon Care

Beim Thema Gesundheit geht es um viel Geld – und ein Teil dieses Geldes ist noch nicht vollständig kapitalistischen Interessen unterworfen. Den Mythen der gesundheitspolitischen Debatten, den Diagnosen der gesundheitspolitischen Probleme und möglichen Alternativen zur neoliberalen Transformation widmete sich Nadja Rakowitz schon 2017 in der RLS-Broschüre „Gesundheit ist eine Ware“. Seitdem hat sich einiges getan. Mit der Corona-Krise eroberten die Tech-Konzerne neue Geschäftsfelder und drängen auch in den Gesundheitsmarkt. Lobbyisten arbeiten in Zusammenarbeit mit dem Gesundheitsministerium an den gesetzlichen Grundlagen für eine kapitalinteressen-orientierte Digitalisierung (vgl. z.B. das „Gesetz für eine bessere Versorgung durch Digitalisierung und Innovation“ von 2019). Das Gesundheitsthema ist mittlerweile nicht mehr ohne den Aspekt der Digitalisierung abhandelbar. Auch im Gesundheitswesen offenbart diese ihren Klassencharakter auf mindestens zwei Ebenen, nämlich der machtpolitischen und der technologischen Ebene:

  1. Digitalisierung im machtpolitischen Sinn: Big Tech investiert nennenswerte Teile seiner Digitalisierungsprofite in traditionell öffentlichen, aber zur Privatisierung freigegebenen Teilen des Gesundheitssystems. Die Investitionsmacht der Tech-Konzerne liegt dabei einerseits Größenordnungen über den üblicherweise sich innerhalb der Branche kannibalisierenden Konkurrenten. Andererseits ist sie verbunden mit einer gesamtgesellschaftlich dominierenden Lobbymacht, die in der Lage ist, die Regeln innerhalb des Gesundheitssystems selbst zu verschieben und so erweiterte Privatisierungsmöglichkeiten zu schaffen.
    Der Digitalisierungseffekt ist hier ein indirekter: Überschüsse aus erfolgreichen Digitalisierungskampagnen der Vergangenheit dienen zur Kolonisierung und Inwertsetzung vormals bürokratisch, nicht in erster Linie profitorientiert bewirtschafteter Unternehmensfelder – nach Kriterien des digitalistischen Kapitalismus/Imperialismus. Ins Gesundheitssystem investierter Digitalisierungsreichtum führt so zu einer weiteren Runde der Umverteilung von öffentlichem Reichtum zu privaten Profiten.
    Außerdem verschiebt sich der in der alltäglichen Betriebsweise eingeschriebene Zweck des Gesundheitswesen weiter in Richtung privater Aneignung bzw. Profitmaximierung: Die Gesundheitsdienstleistung verkehrt sich zum Mittel zu diesem Zweck. Alles, was unter solchen Bedingungen im jetzt eigentlich nur noch sogenannten Gesundheitswesen passiert, hat sich dieser Zwecksetzung unterzuordnen.

    Beispiele:

    • Amazon kauft Gesundheitsversorger One Medical. Dabei geht es sicher auch um die Daten – aber nicht nur. Denn Amazon treibt damit die Privatisierung von Medicare voran, der us-amerikanischen öffentlichen Krankenversicherung für Bedürftige. Unter Biden wurde das von Trump eingeführte Medicare-Privatisierungsprogramm erweitert. Es stellt Medicare-Patienten unfreiwillig auf private Versicherungen um, die von profitorientierten Unternehmen wie One Medical betrieben werden. Medicare zahlt dorthin feste Beträge für diese Patienten und schafft damit Anreize für die Firmen, den Umfang der Versorgung der Versicherten zu begrenzen.
      Das linke, us-amerikanische Nachrichtenportal portside bilanziert: „Mit dem Einstieg von Amazon ist anzunehmen, dass nicht nur nun auch Steuergelder aus dem Gesundheitsbudget an den Megakonzern fließen, sondern auch, dass die Medicare-Empfänger_innen mit einem Gesundheitssystem konfrontiert werden, in dem immer mehr Ressourcen für den Profit statt für Behandlung und Pflege eingesetzt werden.“
    • Das Ehepaar Gates entzieht dem Fiskus seine Milliarden aus der Digitalisierung der Büroarbeit (Microsoft) über ein Stiftungsmodell. Über die Stiftung „fördern“ sie nun Projekte „öffentlicher Gesundheit“, in denen das Privatgeld mit öffentlichen Geldern zusammenfließt.
      Medico International faßt zusammen: „Dabei gehen die stets zweckgebundenen Mittel in alle Richtungen: an Regierungen, UN-Institutionen wie die Weltgesundheitsorganisation, NGOs in Deutschland und international, Forschungseinrichtungen wie die London School on Hygiene and Tropical Medicine und Charité und Medien, wie Spiegel Online oder The Guardian. … Die Gates Stiftung macht die Einbindung von Unternehmen zur Vorbedingung für Kooperationen und pocht in ihren Gesundheitsstrategien stets auf marktbasierte Lösungen.“
      Wie dieser Ansatz auf der Gebrauchswertebene versagt, hat die u.a. von der RLS besorgte Studie „Falsche Versprechen“ am Beispiel landwirtschaftlicher „Entwicklungshilfen“ in Afrika herausgearbeitet.

       

  2. Digitalisierung im technologischen Sinne: Was schon seit den Urzeiten der Kybernetik als Traum von der Expertensystem-basierten Medizin durch Forschung, Entwicklung und Science Fiction geistert, wird derzeit in Form von Pflegerobotik, Gesundheits-Apps und Krankenhausverwaltungssoftware Wirklichkeit. Kapitalistische Handlungsrationalität hat die kybernetische Idee entkernt. Übrig bleiben:
    1. technologische Rationalisierung: Ein Pflegeroboter braucht weder Pausen noch Urlaub. Er kennt weder Stimmungsschwankungen noch Burnout. Auch mit organisiertem Missmut und Streiks ist vorerst nicht zu rechnen. Im Gegenteil: Mit dem Pflege-Robo droht der Care-Bewegung der automatisierte Streikbrecher – ganz im Gegensatz zur gegenwärtigen Utopie der einmütigen „Kooperation und Kollaboration zwischen Menschen und Robotern und zwischen Robotern“, wie sie etwa der Wirtschaftsinformatiker Oliver Bendel ausmalt.
      Die Entwicklung steht zwar ganz am Anfang. Im Kontext der gesellschaftlichen Auseinandersetzungen um die Arbeitsbedingungen in der Pflege sind Experimente in Richtung Pflegerobotik bereits unmittelbar politisiert. Produktlyrik soll Akzeptanz schaffen: Beworben werden „soziale digitale Assistenzsysteme“. Was soll das sein? Folgt man dem Medizinethiker und Philosophen Joschka Haltaufderheide, dann geht es um die Automatisierung dreier Pflegefunktionen: „Erstens Systeme, die physische Aufgaben übernehmen (z.B. Roboter, die Alte aus dem Bett heben), zweitens Systeme, die kognitiv assistieren (z.B. Alte an ihre Tabletteneinnahme erinnern) und drittens Systeme, die auf emotionale Bedürfnisse von alten Menschen eingehen (z.B. elektronische Haustiere oder Roboter, die über Witze lachen, die ein alter Mensch erzählt). Diese auf emotionale Bedürfnisse programmierten Roboter können ihre Kompetenz in Emotionen z.B. durch „aufgeklebte lustige Augen“ verstärken und insgesamt durch ein möglichst menschlich anmutendes Gesicht mit entsprechender Mimik augenfällig machen.“ (Quelle: heise.de: Pflegenotstand)
      Interessant wäre hier ein Monitoring von einerseits Werbung der Hersteller solcher Maschinen und andererseits der gesellschaftlichen und gewerkschaftlichen Auseinandersetzung damit. Denn „keinesfalls, egal wie klug oder geschickt Roboter einmal sind, werden diese so wie Pflegefachpersonen im hohen Maße komplex und der Situation angepasst handeln können. Der Gedanke, dass Roboter Pflege ersetzen könnte, kommt von einem beinahe diskriminierenden und sehr verkürzten Verständnis pflegerischen Handelns“, so in einem Interview Christian Buhtz, der an der Medizinischen Fakultät der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg „robotische Pflegeassistenzsysteme oder Roboter zum Autonomieerhalt“ erforscht und Bildungsangebote für deren Nutzung und Bedienung entwickelt.
      Dementsprechend steht die Sorge um ethische Regeln für solche Systeme im Zentrum der liberalen technologiepolitischen Debatte. Wie das zu kurz greift, habe ich in zwei Glossen anlässlich der Ethikdebatte über selbstfahrende Autos ausgemalt hier im Blog und in der Zeitschrift Luxemburg. Über die Ethikdebatte hinaus wäre also zu fragen, ob unter den Bedingungen von Privatisierung und neoliberalem Umbau der öffentlichen Daseinsvorsorge nicht sogar eher anzunehmen wäre, dass der letztlich dem Profitzweck unterworfene Einsatz sogenannte Pflegeroboter menschliche Pflegekraft tendenziell ersetzen (aber zumindest deren gewerkschaftliche Verhandlungsmacht untergraben) wird und eine De-Humanisierung der Pflege vorantreibt.
    2. Trend der Verlagerung von Arbeit und Verantwortung nach Unten – auf das, was einmal der Patient, die Patientin war. Gesundheits-Apps deprofessionalisieren das Gesundheitswesen, sie zersetzen es und sie ersetzen den menschlichen Experten durch das Wirken benutzerprofilbasierter Algorithmen während sie den Zugriff auf die Gesundheitsdaten bei den Plattformbetreibern konzentrieren. All das ist gewollt und auf Initiative des mit Gesundheitslobbyisten bestens vernetzten ehemaligen Gesundheitsministers Spahn gesetzlich gefordert und gefördert. Aktivist_innen hingegen fordern ein Moratorium in der Digitalisierung des Gesundheitswesens und verweisen auf die Digitalisierungsbaustellen des neuen Gesundheitsministers Lauterbach.
      Allgemeine Kritikpunkte der Algorithmisierung gelten auch hier: Die Betriebsweise hinter den Apps ist intransparent. Das liegt einerseits am Betriebsgeheimnis der Plattformbetreiber, andererseits daran, dass es technisch immer schwieriger bis unmöglich ist, überhaupt noch zu kontrollieren oder auch nur nachzuvollziehen, was der Algorithmus aus den ihm zum „Lernen“ zur Verfügung stehenden Datenmassen an Schlüssen zieht. Bei offensichtlichem „Fehlverhalten“ der App heißt es dann: „Softwarefehler. Kann man nix machen.“ Mit Streikenden konnte man noch verhandeln.
    3. Digitalisierung von Dokumentations- und Verwaltungsabläufen: Krankenhaus- und Praxissoftware und digitale Gesundheitskarte.
      In fast jedem neueren TV-Hospital ist es bereits passiert: Hacker legen die Krankenhaus-IT lahm und verlangen „Lösegeld“ (vgl. exemplarisch Folge 8 der Staffel 4 der US-Serie „New Amsterdam“). Was die Fernsehserien dystopisch durchspielen, ist längst Realität: Schon 2017 waren neben 1000den anderen Unternehmen auch 48 der insgesamt 248 Kliniken des National Health Service in Großbritannien betroffen, Stichwort „WannaCry„. Viele der Krankenhäuser konnten keine Rezepte mehr ausstellen, auch der Zugriff auf Patientenakten war teilweise blockiert, was zu Problemen bei der Versorgung führte. Gegenstand des Angriffs waren Windows-Systeme in den Kliniken, dazu noch veraltete.
      Abgesehen von solch grundsätzlichen Problemen und der Analyse und Kritik daran ist bemerkenswert, dass es nicht nur ein sächsisches Systemhaus gibt, das seine Linux-basierte Open-Source-Lösung für Verwaltungsaufgaben auch auf den Krankenhausbetrieb anpasst. Vielmehr existiert bereits ein ganzer Mikrokosmos spezifischer Open-Source-Krankenhaussysteme (vgl. die „List of open-source health software“ bei Wikipedia oder einen Artikel, der die „12 Best Free/Open Source Hospital Management Software“ mit Pro und Kontra vorstellt).
      Getrieben ist die außergewöhnliche Dynamik Freier Software dadurch, dass Krankenhausbetreiber z.B. in Indien nicht bereit sind, teure Lizenz- und Supportmodelle aus dem Globalen Norden zu bedienen und stattdessen auf Alternativen setzen, die quer zum Konkurrenzprinzip liegen. Aber auch Überlegungen zur Datensouveränität spielen hier eine Rolle, denn wem sollen die Gesundheitsdaten gehören? Wer darf sie zu welchem Zweck nutzen? Im Zusammenhang mit der digitalen Gesundheitskarte und zuletzt dem digitalen Seuchenpass („Corona-App“) hatte und hat die gesellschaftliche Debatte ihren Schwerpunkt auf Datenschutz- und Verfügungsfragen.

Fazit

Die grundsätzlichen Probleme der Digitalisierung im Gesundheitswesen sind bei fortschreitendem Digitalisierungsdruck seitens Regierung und Industrie ungelöst. Die Effekte von Finanzialisierung bzw. Privatisierung im Gesundheitswesen und technologischer Transformation/Digitalisierung überlagern sich: Beide Prozesse importieren ihre jeweils dominierende Systemlogik (Profitzweckorientierung einerseits und De-Humanisierung andererseits) und verändern damit Arbeitsweisen und Produktionszweck. Wechselwirkungen dieser beiden Logikumbrüche wären herauszuarbeiten. Der These einer gegenseitigen Dynamisierung und ihrer Auswirkungen auf Arbeitsverhältnisse und Qualität des bereitgestellten Gebrauchswerts im Gesundheitswesen wäre nachzugehen, um zur Unterstützung der Krankenhaus- und Care-Bewegung beizutragen.

 

 

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